DIE LEGENDE VON VINETA

„An der nordöstlichen Küste Usedoms, im alten Land der Wenden, lag einst von drei Meeren umspült die Stadt Vineta. Von ihr erzählt man sich die wundersamsten und fast unglaublichsten Dinge. Diese Stadt, in die zwölf prächtige Tore Zugang gewährten und die einen herrlichen Hafen ihr eigen nannte, soll größer und älter gewesen sein als irgendeine andere Stadt Europas, größer noch als das schöne Konstantinopel, älter als das prächtige Rom. In ihren Mauern wohnten Slawen, Russen, Griechen, Dänen, Juden, Sachsen und Angehörige vieler anderer Völker, die alle ihre eigenen Stadtviertel besaßen. Jedes Volk hatte seine besondere Religion. Nur die Sachsen waren Christen, durften dies aber nicht bekennen; denn die heidnischen Götter allein genossen öffentliche Verehrung. Ungeachtet solcher Abgötterei waren die Bewohner Vinetas ehrbar und züchtig von Sitten. Kunst und Wissenschaft standen bei ihnen in hoher Blüte.; und in Gastfreundschaft und Höflichkeit gegen Fremde fanden sie nicht ihresgleichen. Keine andere Stadt des Erdenrunds konnte sich mit Vineta in seiner Glanzzeit messen. Da alle Einwohner das gleiche Recht besaßen, Handel zu treiben, kam es zuweilen vor, dass mehr als dreihundert Schiffe aus allen Gegenden der Welt, selbst aus ihren entferntesten und entlegensten Teilen, so aus Afrika und Indien, im Hafen vor Anker lagen. Die Vineter verschickten ihre Waren bis Persien und China, und ihre Läden und Speicher waren mit den seltensten und kostbarsten Waren angefüllt. Weder das edle Pelzwerk des Nordens noch die teuren Spezialität.

Solch unvorstellbarer Reichtum, der manchen Kaufmann zum Hochmut und zur Abgötterei verführte, ließ unter den Bewohnern Neid, Zwietracht und Streit aufkommen. Die einen riefen die Schweden, die anderen die Dänen zu Hilfe, die beide auf einen solchen Anruf schleunigst mit einer großen Flotte angesegelt kamen, um gute Beute zu machen. Sie zerstörten die stolze Stadt Vineta bis auf den Grund und bemächtigten sich ihrer Reichtümer. Das soll geschehen sein zu Zeiten des Kaisers Karls des Großen, der die Slawen in der Mark unterwarf.“ Andere Überlieferungen berichten es anders. Zur Strafe für den Hochmut, der Üppigkeit und die Ausschweifungen der Vineter sei die Stadt vom Ungestüm des Meeres zerstört und von den Wellen verschlungen worden.

Nur ein einziger Mann habe sich auf einem schnellen Pferd nach Koserow retten können und aus Dankbarkeit der dortigen Kirche das „Kreuz von Vineta“ gestiftet. Als die Schweden vom Untergang Vinetas erfuhren, seien sie mit vielen Schiffen von Gotland her gekommen und hätten sich geholt, was sie von den Schätzen der versunkenen Stadt aus dem Meer bergen konnten. Es sei ihnen sogar gelungen, die ehernen Stadttore zu heben, die sich mit nach Wisby auf Gotland nahmen, wohin sich der von den Vinetern geübte Handel verzog.

Die Legende berichtet weiter: „Die Stelle, wo die Stadt gestanden, kann man noch heutigentags sehen. Wenn man von Wolgast über die Peene in das Land zu Usedom, nämlich an die zwei Meilen entfernte Försterei Damerow kommt, so erblickt man bei stiller See, wohl eine Viertelmeile weit in das Meer hinein, eine Menge großer Steine, schlanke Säulen von weißen Marmor und Alabaster und breite Fundamente. Das sind die Trümmer der versunkenen Stadt Vineta! Sie liegen von Morgen nach Abend, an Länge dem Strande gleichkommend. Die ehemaligen Straßen und Gassen sind mit kleinen Kieselsteinen ausgelegt. Größere Steine zeigen an, wo die Fundamente der Häuser gestanden haben.“

Der Sage nach erfüllt die versunkene Stadt noch immer ein wundersames Leben. „Bei heiterem Himmel und ruhigem Meer erblickt man auf dem Meeresgrund zeitenferne Bilder: Große, seltsame Gestalten wandeln in langen, faltigen Kleidern in den Straßen auf und ab. Oft sitzen sie in goldenen Wagen oder auf großen, schwarzen Pferden. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher; ein andermal bewegen sie sich in langsamen Trauerzügen, und man sieht, wie sie einen Sarg zu Grabe tragen. Abends, wenn kein Sturm auf der See ist, hört man die silbernen Glocken der Stadt, tief unter den Wellen, die Vesper läuten. Alle hundert Jahre am Ostermorgen – denn vom Stillen Freitag bis zum Ostermontag soll der Untergang Vinetas gedauert haben - taucht die ganze Stadt in ihrer alten Pracht und Herrlichkeit aus den Fluten auf. Mit allen ihren Häusern, Tempeln, Toren, Brücken, Speichern und Ruinen steht sie dann, wie ein warnendes Zeichen für die Lasterhaftigkeit und Üppigkeit ihrer Bewohner, über den Wellen und wartet darauf, von einem Sonntagskind, das an diesem Tage Geburtstag hat, erlöst zu werden. Das aber kann nur geschehen, wenn die Vineter durch die Tat beweisen, dass sie sich gebessert haben. Sonst sinkt Vineta auf weitere hundert Jahre ins Meer zurück.

Des Nachts aber oder bei stürmischem Wetter darf sich kein Mensch und kein Schiff den Trümmern von Vineta nähern. Unbarmherzig wird das Schiff gegen die Felsen geschleudert, und keiner, der darin gewesen, kann aus den Wellen sein Leben retten.“ Das ist die wundersame Mär vom Aufstieg und Untergang der stolzen See- und Handelsstadt Vineta, ausgeschmückt mit allen Varianten, die man sich hierzulande erzählt.